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Umdenken

Thu Mar 14 16:16:52 2013

Toleranz ist ein Maß für akzeptierbare Abweichung von einer Norm. Was als akzeptierbar angesehen wird, hängt von den jeweiligen Interessen und Anforderungen ab und ist damit immer relativ. Die Auswirkungen selbst kleiner Abweichungen können aufgrund komplexer Wechselwirkungen katastrophal sein. Was für eine Gruppe von Menschen völlig akzeptabel sein mag, kann für eine andere ein notwendiges Tabu sein.

Je nachdem, welche Geschichte, Bedingungen, Interessen und Werte Menschen haben, bestimmen sie ihre Toleranzen in diesem oder jenem Aspekt. Die jeweiligen Toleranzen sind grundsätzlich abhängig von den/dem/der Betrachtenden und nur sehr begrenzt und unter großen Vorbehalten auf andere Menschen übertragbar. Nur sehr wenig gilt für alle Menschen.

Die Festlegung von Normen ist entscheidend für die Bestimmung der Toleranz. Vor allem bei Wertentscheidungen geht es hierbei um Definitionsmacht. Wer bestimmt die Standards und bewertet deren Einhaltung nach welchen Kriterien? Ist es nicht prinzipiell repressiv, andere an den eigenen Maßstäben zu messen?

Bewegungen zum Nutzen der herrschenden Ordnung

Wie wir immer wieder beobachten konnten, zeigt die freiheitlich demokratische Ordnung eine herausragende Fähigkeit zur Integration gesellschaftlicher Bewegungen. Schon früh wurde klar, daß Kapitalismus und Demokratie komplementär sind. Aufstrebende Sektoren können Einfluß gewinnen und an die Macht kommen, ohne dafür zum Aufstand und zur Revolution gezwungen zu sein. Niedergehende Sektoren müssen zwar mit schwindendem Einfluss rechnen, können ihre Interessen jedoch weiter geltend machen. Und Minderheiten können sich als Zünglein an der Waage versuchen. Eine Vielzahl von Interessengruppen streitet um Privilegien und Besitzstände. Und wer seinen Anteil geltend machen will, muss mitmachen.

Beispiel: Öko-Bewegung

Die ökologische Bewegung zeigte schon in den 1960er Jahren den zentralen Widerspruch, der nie überwunden werden konnte. Der 'stumme Frühling' und die einige Jahre später publizierte 'Bevölkerungsexplosion' bereiteten ideologisch einer Politik von Bevölkerungskontrolle den Weg, welche seit den 1970ern systematisch verfolgt wird. Wachsende Bevölkerung wurde kognitiv als Ursache von Armut und Umweltzerstörung etabliert, und so letztlich Massenvernichtung von Menschen ideologisch legitimiert.

Für uns ist es ganz normal, die Erde als Rohstofflager zu betrachten, statt als lebende Gesamtheit. Vernichtung und Ausrottung von Leben sind für uns weitgehend tolerierbar, wie auch die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung unserer Hegemonie und Verteidigung unserer Privilegien. Jedenfalls sind die überkonsumierenden Bevölkerungen der Kolonisierergesellschaften generell nicht bereit, ihre Privilegien aufzugeben und ihre Lebensweise zu ändern. Statt ihren Verbrauch den natürlichen lokalen Gegebenheiten anzupassen, und die Erde mit allem Lebendigen zu teilen, wird die Anzahl der Menschen als globales Problem dargestellt.

Zwar gibt es auch fundamentale Kritik an Wachstum und Industrialisierung, aber diese Kritik wurde immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Öko wurde zum neuen Wachstumsmotor, der sich mittels staatlicher Interventionen in hohem Maße steuern lässt. Von politischen Preismanipulationen, staatlichen Abgaben und Steuern, über Subventionen, bis hin zum Zwangskonsum kann die Politik auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung bauen.

Unsere Toleranz wird deutlich geringer, je mehr es um persönliche Betroffenheiten geht, beispielsweise Verunreinigungen unserer Nahrung, der Gewässer oder der Luft. Die Toleranz für Einschränkungen unseres Konsums ist einerseits hoch, wenn es um sowas wie Rauchverbote geht, und andererseits niedrig, wenn es um sowas wie Mobiltelefone und Urlaubsreisen geht. Toleranz folgt, wie so oft, vor allem Eigeninteressen.

Beispiel Frauenbewegung

Der Kampf um 'Frauenrechte' ist so alt wie das Patriarchat, welches vielerorts seit Jahrtausenden fest verankert ist. Wobei 'Rechte' nicht im Sinne eines Rechtswesens gemeint ist, sondern im Sinne von Respekt, gegen die Gewalt der Männer und gegen Diskriminierung.

Die Frauenbewegung der letzten Jahrzehnte hat verschiedene Phasen gehabt, konnte das Patriarchat jedoch nur oberflächlich ankratzen. Der großen Mehrheit der Frauen in der BRD war es ein zentrales Anliegen, aus der finanziellen Abhängigkeit vom Ehemann und der Enge der zunehmend isolierten Kleinfamilien zu entkommen. Diese Ziele wurden auch großenteils erreicht, aber für einen hohen Preis. Während früher die Männer genug verdienen mußten, und in der Mehrzahl auch konnten, um ihre Familien zu finanzieren, müssen heute die Frauen für Lohn arbeiten, weil das Geld sonst nicht reicht. Da bleibt den Frauen natürlich weniger Zeit für sich und ihre Familien.

Als wir Kinder waren, war Ganztagsbetreuung eine Randerscheinung. Kinder kamen kurz vor der Schule vielleicht in einen Kindergarten. Dabei haben sich unsere Mütter gar nicht ständig um uns gekümmert. Schon in jungen Jahren waren wir viel draußen mit anderen Kindern und meist ohne Betreuung durch Erwachsene. Die Mütter hatten die Wohnungen zu reinigen, die Wäsche zu machen, Kleidung anzufertigen und zu reparieren, einzukaufen, zu kochen, Hausaufgaben zu überwachen, ihren altgewordenen Eltern zu assistieren, Familienprobleme zu klären, ihren Männern zu dienen, und vieles mehr. Da gibt es wenig zu idealisieren.

Wachtum und Kontrolle

In ihrer verzweifelten Suche nach Wachstumsmärkten kamen die privaten Bereiche der Menschen zunehmend ins Visier der Planer. Traditionell private (häusliche) (Frauen-)Bereiche werden zunehmend monetarisiert und staatlich reglementiert. Durch allerlei Dienstleistungen wird den Menschen das Geld abkassiert, welches sie vorher nicht ausgeben mußten. Statt Anerkennung und finanzielle Kompensation für ihre traditionelle Aufgaben zu bekommen, folgte der Arbeitszwang und die zunehmend obligatorische frühkindliche Unterbringung.

Der Staat bekommt dabei immer mehr Zugriff und Kontrolle über das Leben vor allem der Kinder, aber auch der Familien allgemein. Das läuft schwerpunktmäßig über direkte Einflußnahme der Jugendämter und die Professionalisierung von Kinderbetreung, also eine zunehmende Standardisierung und Reglementierung der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Aber auch in anderen Bereichen beobachten wir ähnliche Entwicklungen. So werden bereits die Schwangerschaft und früheste Kindheit immer weiter unter Kontrolle gestellt, beispielsweise mit pränataler Diagnostik und obligatorischen Untersuchungen/Behandlungen. Als unerwünscht geltende Abweichungen von der jeweils propagierten Norm werden als Krankheiten stigmatisiert. In immer früheren Alter werden Kinder als auffällig registriert und unter Beobachtung gestellt, in Therapien geschickt oder sogar mit Psychopharmaka behandelt.

Bei all diesen Entwicklungen war von einer Frauenbewegung nicht viel dazu zu hören. Statt dessen geht es im öffentlichen Diskurs vor allem um Gleichheit bei den Löhnen, Karrieremöglichkeiten, der Vereinbarkeit von Kindern und Karriere. Die mehr symbolische finanzielle staatliche Kompensation von Eltern, die ihre Zeit an den Kindern orientieren und sie nicht in Betreuung zu geben, wurde verächtlich als 'Herdprämie' denunziert. Lediglich bei Reichen und Hochgestellten war es schon lange üblich, ihre Kinder von Zofen betreuen zu lassen und in Internate zu geben. Heute heißt es, Kinder seien benachteiligt, wenn sie nicht frühzeitig in die Obhut von Einrichtungen übergeben werden. Dabei war die Sorge und das Kümmern um die Kinder immer eine der bedeutungsvollsten Aufgaben der Frauen und von zentraler Wichtigkeit für jede Gesellschaft.

Verdinglichung der Frauen

Die Verdinglichung von Frauen wurde weiter verstärkt. Werbung und Medien sind voll von kaum bekleideten Frauen, oft klassisch ohne Kopf. Die Mode- und Kosmetikindustrien zielen schon sehr früh vor allem auf die Mädchen und propagieren ein Schönheitsideal, an welchem sich die Mädchen und Frauen orientieren sollen. Sexiness wird als hoher Wert gehandelt und offen zur Schau gestellt.

Frauen machen ihr Äußeres für die Männer zurecht, nach deren Kriterien von Sexiness, und als Unterwerfung unter das Gebot des zumindest visuellen Zugriffs auf die Frauenkörper. In Film und Fernsehen werden die Machtphantasien der Männer bedient, indem Frauen als Sex-Objekte und in wehrlosen Opferrollen gezeigt werden. Parallel dazu wurden Pornografie, Striptease und Prostitution weitgehend normalisiert. Sextourismus und Frauenhandel sind wachsende Wirtschaftszweige.

Das spärlich und sexisiert bekleidete Frauen als Symbol für die Freiheit der Frauen proklamiert werden, macht die Sache nur noch schwieriger. So wird umgekehrt die verbergende Kleidung bei Frauen als Symbol für die Unterdrückung der Frauen angesehen. Ist es würdevoller, sich für die Männer zur Schau zu stellen, als den Blicken den Zugriff zu erschweren?

Die Fixiertheit auf Sexualität bestimmt nach wie vor weitgehend die Sichtweise und Phantasien christlich-europäischer Gesellschaften. Das zeigt sich beispielhaft in dem Acronym LGBTQ, wo es zentral um sexuelle Orientierung und die daran geknüpfte Diskriminierung von Randgruppen geht. Jedenfalls sind dies willkommene Themen für die politischen Propagandisten, da sie keine wesentlichen Machtpositionen berühren, aber bei vielen Menschen starke Emotionen wecken und sie damit von anderen Themen ablenken. Was bedeutet es, wenn die Entwicklungspolitik die Rechte von Schwulen und Lesben in den Vordergrund rückt? Soll hier nicht einfach die vorgebliche Toleranz und Überlegenheit der 'westlichen' Zivilisation hervorgehoben und die kulturelle Kolonisierung der so traktierten Länder vorangebracht werden?

Beispiel: Friedensbewegung

Schon während des Aufmarsches von Hundertausenden US-Truppen gegen den Irak 1990 kam es zu Konflikten in antiimperialistischen und friedensbewegten Kreisen. Vielen fehlten die 'Guten', welche unsere Solidarität verdient hätten. Sie stellten die Regierung des Irak an den Pranger wegen des Giftgaseinsatzes von Halabja und der Verfolgung und Ermordung von irakischen Oppositionellen. Wieso kamen diese Themen damals auf, während sie seit der Zeit, als sie publik wurden, nicht beachtet worden waren? Die Militärbasen und Infrastruktur der USA in Deutschland waren von zentraler Bedeutung für den Aufmarsch und die Kriegsführung am Persischen Golf. Hatten wir nicht eine unmissverständliche Aufgabe?

Jahrelange Kriegspropaganda gegen die Serben brachte eine breite öffentliche Zustimmung für die offizielle Beteiligung deutscher Truppen an den Angriffen gegen Jugoslawien. Das Prinzip 'Nie wieder Krieg' wurde durch eine Rethorik von Gut und Böse zersetzt, wobei wir den alten Feind diesmal auf der richtigen Seite in einem gerechtfertigten Krieg angreifen mussten. Nach dem Anschluß der DDR an die BRD und der wiederhergestellten Souveränität kehrte Deutschland nun wieder zur Normalität zurück, half an vorderster Front bei der gewaltsamen Zerschlagung Jugoslawiens und nahm eine hervorragende Stellung in der Besatzung Bosniens und der serbischen Provinz Kosovo ein, die bis heute andauert.

Die jahrelangen Kampagnen gegen die Taliban-Regierung in Afghanistan von Frauen- und Menschenrechtsgruppen verfehlten nicht ihre Wirkung, denn sie hatten Grundlagen gelegt, welche sich hervorragend zur Kriegspropaganda nutzen ließen. Kaum jemand mochte für die Verteidigung der Souveränität Afghanistans eintreten. Keine Toleranz für das Selbstbestimmungsrecht der afghanischen Gesellschaft und völlige Missachtung des Gebots der Nichteinmischung. Selbst hartgesottene Sexisten und Patriarchen beriefen sich jetzt auf die Rechte der Frauen in Afghanistan.

Zum zehnten Jahrestag des Genozids in Rwanda traten Kofi Annan und Bill Clinton mit einer Kampagne hervor. Die 'internationale Gemeinschaft' hätte eine moralische Verpflichtung, 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit' zu unterbinden und die 'Täter' strafgerichtlich zu verfolgen und zu bestrafen. Eine 'Schutzverantwortung' der Staaten wurde konstruiert und damit die Türen für militärische Interventionen weit geöffnet. Als Beispiel wurde die Situation im Sudan genommen. Zahlreiche NGOs und entwicklungspolitische AktivistInnen forderten Strafmaßnahmen gegen die sudanesische Regierung und die Intervention ausländischer Truppen in Darfur.

Hohe Toleranz für den Einsatz von Waffengewalt

Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich in der Bevölkerung eine immer höhere Toleranz für den Einsatz von Waffengewalt verbreitet. Das geht bis tief in die Friedensbewegung hinein, wo vielen die Rechtfertigungen von Krieg als notwendiger humanitärer Hilfeleistung und die Dämonisierung der Angegriffenen übel zugesetzt haben.

Von der 'Nichteinmischung in die innere Angelegenheiten', dem Grundprinzip einer friedlichen Koexistenz zwischen Staaten, ist kaum noch die Rede. Das 'Nie wieder Krieg' ist nur noch Geschichte. Die 'Souveränität der Staaten' ist eine zur Schau gestellte Farce und das 'Völkerrecht' wieder offen ein Recht der Stärkeren zur Durchsetzung ihrer Interessen mit allen von ihnen als notwendig angesehenen Mitteln.

Beispiel: Anti-Rassismus Bewegung

Die europäischen antirassistischen Bewegungen kranken an der generellen Missachtung der kolonialen Beziehungen, welche die Grundlage unserer Privilegien in den Kolonisierergesellschaften sind. Die kolonialen Beziehungen spalten die Menschen in Kolonisierer und Kolonisierte, wobei die Rollen nicht ausschließend sind. Kolonisierer können auch Kolonisierte sein, und umgekehrt. Aber das Verhältnis ist dennoch eindeutig.

Es ist unmöglich, den Rassismus ernsthaft zurückzudrängen, ohne unsere Beziehungen zur Erde und zu anderen Völkern zu entkolonisieren. Sollen diese Beziehungen jedoch nicht ernsthaft in Frage gestellt werden, bleibt der Fokus auf der Oberfläche und im Bereich individueller Einstellungen und Befindlichkeiten.

Die Toleranz für die systematische Verbreitung von Hunger, Seuchen und Kriegen als der zentralen Mittel von Massenvernichtung ist in unseren Kolonisierergesellschaften sehr hoch. Wir spenden vielleicht hier und da ein wenig und akzeptieren gewisse Preiszuschläge für 'fairen Handel', tun betroffen angesichts von Bildern und Geschichten über schreckliche Armut und Ausbeutung, mögen vielleicht sogar protestieren, aber ein Eingeständnis unserer Verantwortung für die Armut der ausgebeuteten Länder wird generell verweigert. Ist es nicht allgemein bekannt, daß Menschen vielerorts für einen Bruchteil unserer Löhne unter grausamen Bedingungen arbeiten müssen, damit wir hier billig einkaufen können? Woher kommen die Rohstoffe, von deren kontinuierlicher Verfügbarkeit wir abhängig sind und um die immer wieder Kriege entfacht werden? Ist es nicht offen sichtlich, daß unsere Lebensweise Zerstörung und Massenvernichtung in vorher unvorstellbaren Ausmaßen hervorgebracht hat?

Neben der gewaltsamen Unterjochung ist die Manipulation der Institutionen, Gedanken und Diskurse der Kolonisierten entscheidend für die Aufrechterhaltung kolonialer Beziehungen. Wichtige Mittel sind dabei kognitive Muster und die Idee-Werte.

Ein Beispiel: Für viele Völker und Kulturen war Privatbesitz in unserer Form unbekannt. Der Grund ist einfach und klar: die Erde kann niemand besitzen, denn sie ist die Grundlage allen Lebens und muß daher mit allem Lebenden geteilt werden. Wenn überhaupt, dann haben diejenigen Lebensformen ein Vorrecht, die schon lange vor uns die Erde bevölkerten. Die Kolonisierer zeigten jedoch wenig Respekt für die Anschauungen und Überzeugungen der Bewohner der Länder, die sie ausplündern und kolonisieren wollten. Mit der Zeit gelang es ihnen durchzusetzen, daß das Land mit Hilfe von Besitztiteln aufgeteilt wurde, woran Bestimmungsrechte geknüpft wurde. Den Kolonisierten wurde nicht nur eine Ordnung gewaltsam aufgezwungen, sondern auch ihre Denkmuster entsprechend manipuliert. Land wird heute einfach als eine Ware gehandelt.

Mit dem Umdenken beginnen

Seit Jahrhunderten wurden sowohl unsere Lebensweise, als auch unser Denken vom Rassismus und Kolonialismus geprägt. So auch die 'Aufklärung' und die 'Wissenschaften', denen ein rassistisches Menschenbild und ein totalitärer Anspruch zugrunde liegt. Als Menschen können wir grundsätzlich keine universellen Werte aufstellen, da wir ja alle immer nur im Verhältnis zu allen anderen Lebewesen stehen. Sobald manche Menschen die Dinge anders sehen, wird der Anspruch auf Universalität entweder zum Glauben oder zur totalitären Ideologie.

Uns EuropäerInnen fällt es leicht, unsere Werte, Kategorien und Prinzipien für universell zu erklären. Das reflektiert unseren Führungsanspruch und unseren Glauben an die Überlegenheit der eigenen Zivilisation. Wir bestehen auf der Definitionsmacht und nehmen uns heraus, andere an unseren Maßstäben zu messen und nach unserem Gutdünken zu bewerten. Das zeigt vor allem einen ausgeprägten Willen zur Gewalt.

Kulturelle und soziale Selbstbestimmung wird nur vereinzelt, konditional und temporär toleriert, vorzugsweise wenn es um kleine, meist idealisierte Gemeinschaften geht, wie manche 'indigene' Völker, aber keineswegs, wenn es um potentiell ernstzunehmende Herausforderungen unserer Definitionsmacht geht, wie durch sich am Islam orientierende Bewegungen.

Freiheit und Gleichheit

Alle Menschen seien frei und gleich geboren, hieß es. Dabei ist offensichtlich, daß menschliche Säuglinge schon vor ihrer Geburt total abhängig und hilflos sind, was sich auch mit zunehmenden Alter nicht grundsätzlich ändert. Wir Menschen sind alle frei im Sinne des sich-entscheiden-müssens und der Verantwortung für unser Handeln. Diese Freiheit kann nicht genommen werden, sondern ist eine Eigenschaft unserer Spezies. Lediglich die Möglichkeiten können mehr oder weniger begrenzt oder eingeschränkt sein, wobei mehr nicht besser sein muß und weniger auch gut sein kann.

In fundamentalem Sinne sind alle Lebewesen als Teil der Schöpfung gleich, vielleicht auch als zufällige Ergebnisse evolutionärer Entwicklungen. Doch sowohl als Spezies im Verhältnis zu anderen Spezies, als auch als Gemeinschaft im Verhältnis zu anderen Gemeinschaften, und sogar als Einzelne im Verhältnis zu anderen Einzelnen, sind wir konkret relativ unterschiedlich. Vorhandene Gemeinsamkeiten sind dadurch nicht negiert. So brauchen alle Lebewesen Wasser und Nahrung. Alle Menschen brauchen die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Schutz vor extremen Wetterbedingungen. Aber jenseits einiger Eigenschaften und Beschränkungen unserer Spezies zeigt sich eine Vielfalt unterschiedlicher Lebens- und Sichtweisen, die gewaltsam einer Triage von Integration, Assimilation und Extermination unterworfen werden.

Das Postulat der Gleichheit aller Menschen war und bleibt immer rein abstrakt und selektiv. Aber auch theoretisch ist das Gleichheitspostulat fragwürdig. Sollten nicht die 'Rechte' und 'Pflichten' je nach Position und Verantwortlichkeiten unterschiedlich sein? Können nicht Frauen und Männer als unterschiedlich gesehen werden? Und wie ist es mit der Gleichheit von Gemeinschaften in ihrer Vielfalt?

Diskurse und Idee-Werte

Wenn ein Diskurs erst von den Massenmedien aufgegriffen und mittels Propaganda Meinungsbilder kristallisiert werden, ändert sich der Sinnzusammenhang unwiederbringlich. Scheinbar gleiche Ansichten bedeuten fortan etwas anderes. Wenn wir bestimmte Begriffe und kognitive Muster benutzen, verstärken wir die Wirkung der entsprechenden Propaganda. Es ist grob fahrlässig, diesen Sinnzusammenhang zu missachten.

Wir müssen kontinuierlich beobachten, wie Diskurse strukturiert und verschoben werden und unsere Stellungnahmen strategisch und rethorisch anpassen, ohne dabei unsere grundlegenden Werte und Prinzipien zu verraten.

So beruft sich die NATO auf individuelle Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, und definiert diese Werte als universell und immerwährend. Die öffentliche Meinung, zumindest in den NATO-Staaten, findet dies weder absurd oder lächerlich, sondern die Mehrzahl der Bürger fühlt sich dieser Wertegemeinschaft zugehörig. Was ist verkehrt daran?

Idee-Werte sind gleichzeitig Praxis, Idee und Wert. 'Demokratie' beispielsweise ist praktisch einfach eine politische Ordnung mit bestimmten Institutionen, Regelungen und Funktionsweisen. Gleichzeitig ist Demokratie aber auch ein Wert an sich, der mit ganz unterschiedlichen Ideen verbunden werden kann. Wird nun Demokratie von den praktischen Erfahrungen und Auswirkungen her grundsätzlich kritisiert, wird der Impuls zur Verteidigung des Wertes ausgelöst. Es sei halt noch nicht die wahre oder echte Demokratie, aber zumindest sei doch Demokratie das geringste Übel unter den Herrschaftsformen. Wenn eine Idee sich nicht in der Praxis beweisen muss, sondern per Definition 'gut' ist, gibt es kein leichtes Entkommen aus dieser gedanklichen Falle.

Ähnlich ist es auch mit den 'Menschenrechten'. Praktisch haben die Menschen jedenfalls nicht nur sehr unterschiedliche 'Rechte', sondern selbst das fundamentale 'Recht' auf Existenz wird durch systematische Massenvernichtung beständig verneint. In der europäischen Konstruktion sind die Menschenrechte eines ihrer typischen Lügengebäude proklamierter Prinzipien und scheinbar guter Absichtserklärungen, die mit ihrer Praxis überhaupt nicht übereinstimmen. Zudem ist Recht im Sinne von Rechtsstaat und Gesetzen etwas völlig anderes, als Recht im Sinne von Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit. Es zeigt sich immer wieder, daß das Recht im Sinne von Rechtsstaat vor allem ein Mittel zur Verteidigung und Durchsetzung der herrschenden Ordnung ist.

Kommen wir schließlich zum Mythos vom 'Fortschritt', der eine Hierarchie konstruiert, die andereals die dominierende Lebensweise diskriminiert und entweder dem Untergang weiht, oder freundlicherweise in ein Reservat verbannt. Der Fortschritt hat Zerstörung und Vernichtung in immer größeren Dimensionen gebracht, zahllose Gemeinschaften gewaltsam zersetzt, unterjocht oder ausgerottet, und permanente fundamentale Instabilitäten etabliert. Dennoch ist der Fortschrittsglaube nahezu ungetrübt. 'Fortschrittlich' und 'rückschrittlich', 'progressiv' und 'reaktionär' basieren auf einer linearen Konzeption von Geschichte, die dabei helfen soll, die jahrhundertelange Schreckensherrschaft der Europäer zu legitimieren und festzuschreiben. Es geht darum, einen Bruch mit der herrschenden Lebensweise als unmöglich darzustellen, oder zumindest als Katastrophe.